Wenn sich die Musik ändert, tut es auch der Tanz: Steuerung kooperativer elektronischer Zustände in Kagome-Metallen
Das Abspielen eines anderen Soundtracks ist physikalisch gesehen nur eine winzige Veränderung des Schwingungsspektrums, doch seine Auswirkungen auf der Tanzfläche sind dramatisch. Die Menschen sehnen sich nach diesem winzigen Auslöser und wenn eine Salsa in einen Tango übergeht, entstehen völlig andere kollektive Muster. Damit ein solch winziger Stimulus Wirkung zeigt, muss das Publikum mehr als nur einen Tanz kennen. Elektronen in Metallen neigen dazu, bei Nulltemperatur, wenn alle kinetische Energie gelöscht ist, nur ein Verhalten zu zeigen. Man muss die elektronische Wechselwirkung stören, um die Dominanz einer bestimmten elektronischen Ordnung zu brechen und mehrere mögliche Konfigurationen zu ermöglichen, was die Vielfalt ihres Verhaltens wiederherstellt und die Signaturen der Quantenmechanik verstärkt. Jüngste Ergebnisse zu Kagome-Netzen deuten darauf hin, dass dieses Dreiecksgitter in jener Hinsicht recht effektiv ist.
Das zweidimensionale (2D) Kagome-Gitter, benannt nach dem japanischen Flechtmuster eines Bambuskorbes, besteht aus einer Reihe von Dreiecken, die sich die Ecken teilen. Wenn jede Ecke mit magnetischen Momenten mit antiferromagnetischen Korrelationen besetzt ist, begünstigen die nächstgelegenen Wechselwirkungen nicht zueinander ausgerichtete Spins. Das System ist daher geometrisch frustriert und erreicht einen magnetisch geordneten Zustand, der normalerweise als magnetische Frustration bezeichnet wird. In den späten 1980er Jahren wurde gezeigt, dass das antiferromagnetische Kagome-Gitter möglicherweise das frustrierteste 2D-Magnetsystem ist, das man konstruieren kann [1].
Eine bestimmte Gruppe von Kagome-Supraleitern hat in jüngster Zeit eine intensive wissenschaftliche Debatte ausgelöst, wobei eine Reihe von Studien scheinbar widersprüchliche Eigenschaften dieser Materialien aufgedeckt hat. Nun ist es einem internationalen Forschungsteam unter der Leitung von Wissenschaftlern des MPSD gelungen, ein Mitglied dieser Gruppe von Kagome-Materialien ohne äußere Störeinflüsse zu untersuchen - ein entscheidender Schritt für das Verständnis seines intrinsischen elektronischen Grundzustands. Die Studie ist in Nature Physics erschienen.
Wenn 2D-Kagome-Netze zu 3D-Metallen kombiniert werden, werden diese Kagome-Metalle zu einem reichhaltigen Testfeld für die Erforschung des Zusammenspiels zwischen nicht-trivialen topologischen Anregungen und starken elektronischen Korrelationen. Darüber hinaus verhindert die starke geometrische Frustration die Etablierung elektronischer Ordnungen, da mehrere mögliche Grundzustände energetisch nahezu entartet sind. Dies bedeutet, dass es zwei oder mehr mögliche elektronische Grundzustände gibt, die energetisch nahezu gleichwertig sind. Da die Energieskala des Systems durch die elektronischen Korrelationen weiter normalisiert wird, weisen Kagome-Metalle häufig eine verflochtene elektronische Ordnung auf, da selbst minimalste Störungen ihre physikalischen Eigenschaften drastisch verändern.
Aufgrund ihres strukturellen Aufbaus und ihrer magnetischen Frustrationen reagieren die Eigenschaften von Kagome-Materialien selbst auf scheinbar geringe Störungen sehr stark. Diese extreme Abstimmbarkeit wurde durch die jüngsten Fortschritte bei einer Gruppe von Kagome-Supraleitern, AV3Sb5, deutlich veranschaulicht. Diese Materialien zeigen elektronische Ordnungen bei etwa 100 Kelvin Celsius und einen supraleitenden Grundzustand mit einer kritischen Temperatur bei ~ 3 K [2]. Darüber hinaus hat eine beeindruckende Reihe von Experimenten gezeigt, dass in diesem Material noch „etwas anderes“ vor sich geht, was oft mit einer Anfangstemperatur von T'~ 30 K verbunden ist [3]. Wissenschaftler*innen versuchen, zu verstehen, was diese Veränderungen sind und warum sie auftreten. Bislang sind die Forschungsergebnisse offenkundig widersprüchlich und stark umstritten.
In ihrer kürzlich veröffentlichten Arbeit haben die Forscher*innen nun gezeigt, dass dieser auf den ersten Blick widersprüchliche Zustand der Literatur ein Merkmal und kein Fehler ist. Er ist eine direkte Folge des unkonventionellen Grundzustands von AV3Sb5, der mehrere miteinander verflochtene elektronische Ordnungen aufweist. Daher kann das System durch äußere Störeinflüsse wie Dehnungen oder Magnetfelder aus seinem eigentlichen Grundzustand herausgelöst werden, was zu kontroversen experimentellen Beobachtungen führt. Um den inhärenten elektronischen Grundzustand ohne Störungen zu identifizieren, entwickelten sie einen neuartigen spannungsfreien Ansatz, der auf der Technik des fokussierten Ionenstrahls basiert, um AV3Sb5 von Störungen wie der thermischen Differenzialspannung zu isolieren [4]. Diese technischen Fortschritte ermöglichten es dem Team, den intrinsischen elektronischen Grundzustand sowie dessen drastische Reaktion auf äußere Störungen in diesen Kagome-Supraleitern eindeutig zu bestimmen. Ihre Arbeit liefert ein einheitliches Bild der umstrittenen Ladungsordnung in Kagome-Metallen.
Die leicht zu manipulierenden elektronischen Ordnungen in Kagome-Metallen verdeutlichen die Notwendigkeit einer Materialkontrolle auf mikroskopischer Ebene, um emergente Symmetriebrechungen in Quantenmaterialien zu identifizieren. Sie weisen auch auf einen spannenden Weg in Richtung zukünftiger Elektronik hin. Da die Störungen, die zur Änderung des elektronischen Grundzustands erforderlich sind, äußerst gering sind, bietet die Studie wichtige Einblicke in die seit langem bestehenden Vorschläge für nichttriviale elektronische Anwendungen, die auf elektronischen Instabilitäten in Quantenmaterialien beruhen. Offensichtlich lernen Elektronen in Kagome-Strukturen, nach vielen Melodien zu tanzen.
Das Forschungsteam bestand aus Wissenschaftler*innen des MPSD und des Max-Planck-Instituts für Chemische Physik fester Stoffe in Deutschland, der Universität Zürich (Schweiz) sowie der Universität des Baskenlandes (Spanien).
[1] V. Elser, Phys. Rev. Lett. 62, 2405 (1989).
[2] B. R. Ortiz et al, Phys. Rev. Materials 3, 094407 (2019).
[3] T. Neupert et al, Nat. Phys. 18, 137 (2022).
[4] C. Guo et al., Nature 611, 461 (2022).