Magnetfeld erzeugt LCD-ähnlichen nematischen Zustand in chiralem Supraleiter
Forscher des Max-Planck-Instituts für Struktur und Dynamik der Materie (MPSD) in Hamburg und der RWTH Aachen haben eine überraschende Verbindung zwischen dem nematischen Verhalten eines Supraleiters in einem Magnetfeld - einem Zustand, der LCD-Flüssigkristallen ähnelt - und seinem chiralen Grundzustand außerhalb des Magnetfeldes vorgeschlagen. Ihre Theorie könnte nicht nur die jüngsten Experimente mit zweischichtigem Graphen am sogenannten magischen Winkel erklären, sondern auch auf mögliche Anwendungen in der topologischen Quanteninformatik hinweisen. Die Ergebnisse des Teams wurden in Physical Review Letters veröffentlicht.
In konventionellen Supraleitern – also Materialien, die Elektrizität ohne Verluste leiten - sieht die kollektive Wellenfunktion der supraleitenden Elektronen im Material (der "supraleitende Ordnungsparameter") in allen räumlichen Richtungen gleich aus. Wie ein Kreis kann sie gedreht werden, ohne ihre Form zu verändern. Im Gegensatz dazu besitzen unkonventionelle Supraleiter einen Ordnungsparameter, der blütenartige Ausbuchtungen haben kann und erst bei einer Drehung um bestimmte Winkel zu sich selbst zurückkehrt (siehe Abbildung, links). Solche unkonventionellen Ordnungsparameter können sogar kombiniert werden, um spiralartige, chirale Zustände zu bilden – wie linke und rechte Hände, die im Spiegel nicht gleich aussehen. Hier verwandelt sich unter Spiegelung ein rechtshändiger in einen linkshändigen Zustand und umgekehrt.
Zusammen mit seinen MPSD-Kollegen stellte der Postdoktorand Tao Yu aus Michael Sentefs Emmy-Noether-Gruppe nun die Theorie auf, dass solche spiralartigen Zustände ihren chiralen Charakter verlieren können und stattdessen einen nematischen Zustand in einem Magnetfeld annehmen. Im nematischen Zustand, der von Flüssigkristallanzeigen bekannt ist, richten sich lange Moleküle so aus, dass sie wie kleine Nadeln in einem Magnetfeld alle in die gleiche Richtung zeigen. Im Supraleiter bewirkt dieser nematische Zustand, dass die Elektronen in einer Richtung (z.B. von links nach rechts) besser Strom leiten als in der anderen (von oben nach unten). „Stellen Sie sich einen Kreis mit einem Pfeil am Rand vor, zum Beispiel eine Uhr, bei der der Pfeil die Drehung der Zeiger im Uhrzeigersinn anzeigt", erklärt Yu. „Nun beginnt man, die Uhr zu komprimieren, indem man sie von links und rechts zusammendrückt, bis sie vollständig in eine Linie gequetscht ist. An diesem Punkt kann man den Drehsinn des Zeigers nicht mehr bestimmen, weil die 9-Uhr- und die 3-Uhr-Position identisch sind." Das Magnetfeld presst den chiralen Supraleiter so lange zusammen, bis sich dessen Elektronen bevorzugt in dieselbe Richtung bewegen.
Die Physik lässt sich auch anhand der Bloch-Kugel veranschaulichen (siehe Abbildung, rechts), die durch alle möglichen Formen und Ausrichtungen der Uhr gebildet wird. „Der Südpol ist die übliche Uhr mit linksdrehenden Zeigern im Uhrzeigersinn. Der Nordpol ist sein Spiegelbild. Der Äquator weist verschiedene Ausrichtungen nematischer Zustände ohne Händigkeit auf. Das Magnetfeld wirkt sich so auf das Material aus, dass sich der Pfeil in diesem Bild von einem der Pole zum Äquator bewegt", erklärt Yu.
Das Interesse der Theoretiker an diesem Problem wurde durch ein Experiment der Gruppe von Pablo Jarillo-Herrero am Massachusetts Institute of Technology geweckt, welches Anfang des Jahres in Science veröffentlicht wurde. Dort beobachteten die Forscher nematisches Verhalten in verdrehtem zweischichtigem Graphen („twisted bilayer graphene“, TBG), das einem Magnetfeld ausgesetzt wurde. TBG ist eines der meist untersuchten und faszinierendsten Materialien der letzten Jahre. „In dieser Arbeit wurde die Verbindung zwischen dem beobachteten nematischen Verhalten und den zugrundeliegenden chiralen Zuständen nicht hergestellt", sagt Dante Kennes, Mitautor der Studie und Professor an der RWTH Aachen. „Es bleibt abzuwarten, ob unsere Theorie die Nematizität in TBG erklärt, oder ob sie einen anderen Ursprung hat. Dazu sind weitere Experimente nötig. Unsere Theorie gilt aber nicht nur für dieses Material, sondern ist allgemeiner anwendbar."
Michael Sentef, Emmy Noether-Gruppenleiter am MPSD, hält die Ergebnisse für potenziell bahnbrechend: „Interessanterweise könnte das Experiment einen indirekten Hinweis auf die chirale Supraleitung erbracht haben. Falls das bestätigt würde, wäre es von großer Bedeutung." Laut Sentef verdeutlich das Experiment zudem ein grundlegenderes Thema: „Was ich ebenso faszinierend finde, ist die Art und Weise, wie die Idee zustande kam. Tao arbeitete an der optischen Manipulation von chiralen Zuständen, in der wir zeigten, dass die Chiralität durch Laserpulse umgedreht werden kann, eine Idee, die einige von uns vor einigen Jahren entwickelt haben (siehe Pressemitteilung) Als er die Arbeit der Jarillo-Herrero-Gruppe sah, erkannte er einen Zusammenhang und sah, dass ein Magnetfeld eine sehr ähnliche Wirkung wie ein Laserpuls haben kann."
Dies sei eine wichtige Lehre, so Sentef: „Der kürzlich verstorbene Nobelpreisträger Steven Weinberg schrieb einmal, dass eine der wichtigsten Erkenntnisse seiner beeindruckenden Forschungskarriere darin bestand, dass man sich Zeitverschwendung verzeihen sollte. Ich glaube, er meinte damit, dass die Forschung nicht immer einfach ist und es unglaublich schwer ist, vorherzusagen, welche Probleme es wert sind, verfolgt zu werden. Hier haben wir ein perfektes Beispiel für eine wirklich zufällige Entdeckung - eine ungeplante Entdeckung, die nur dann möglich ist, wenn wir die Gelegenheit haben, tiefgründig über die Natur nachzudenken, ohne genau zu wissen, wohin uns das führen wird. Das MPSD ist ein Land der Ideen, das solche Möglichkeiten bietet, und ich hoffe aufrichtig, dass es so bleiben wird."