Topologische Zustände auf frischer Tat ertappt
Im letzten Jahrzehnt ist die Suche nach topologischen Materialien in der Quantenmaterialwissenschaft sprunghaft angestiegen. Diese Materialien können sich an ihren Grenzen komplett anders verhalten als tief in ihrem Inneren. Topologische Isolatoren sind ein markantes Beispiel: Im Inneren leiten sie keine Elektrizität, aber durchaus entlang ihrer Oberfläche, in den so genannten Randmoden. Da diese Randmoden nur gewaltsam zerstört werden können, bieten sie einen geschützten Raum, in dem sich Elektronen mit voller Geschwindigkeit fortbewegen – quasi eine Art Quantenautobahn, nur ohne Staus.
Aufgrund dieser topologische Eigenschaft sind solche Materialien vielversprechende Kandidaten für zukünftige Quantenbauelemente. Besonders leistungsstark sind sie in Kombination mit Floquet-Engineering: Dem Konzept, dass sich periodisch angetriebene Materialien gänzlich anders verhalten können als nicht angetriebene. Da ein Laserpuls nichts anderes ist als ein periodischer Treiber, könnten in lasergetriebenen Materialien Eigenschaften nach Bedarf erzeugt werden. So haben Forscher zum Beispiel vorgeschlagen, einen korkenzieherähnlichen Laser mit links- oder rechtshändigem Licht zu verwenden, um Randmoden (wiederum links- oder rechtsdrehend) zu erzeugen und so die Drehung des Lichts dem Material einzuprägen – selbst wenn dieses ohne Laser nicht topologisch ist.
Auf dem Weg dorthin gibt es einige wichtige Hindernisse. Kontrollierte Materialveränderungen erfordern starke Laser, die sehr kurze Laserblitze erzeugen. Daher ist die Floquet-Topologie extrem kurzlebig und verschwindet innerhalb von wenigen hundert Femtosekunden (eine Femtosekunde ist zu einer Sekunde das, was eine Sekunde zum Alter des Universums ist!). Mit anderen Worten: Dieser Zustand ist schwer nachzuweisen.
Nun hat ein Forscherteam aus Wissenschaftlern des Stanford Institute for Materials and Energy Sciences (USA), der Universidad del País Vasco in San Sebastian (Spanien), des Max-Planck-Instituts für Struktur und Dynamik der Materie (MPSD) in Hamburg (Deutschland), des Zentrums für Computational Quantum Physics am Flatiron-Institut der Simons-Stiftung in New York (USA) und der Universität Freiburg (Schweiz) gezeigt, dass diese kurzlebigen Zustände mit ebenso kurzen Korkenzieher-Laserblitzen verfolgt werden können.
Der Hauptautor der Studie, Michael Schüler, ein Postdoktorand in der Gruppe von Thomas Devereaux in Stanford, erklärt: "Wenn ein topologischer Floquet-Zustand erzeugt wird, führt dies zu einer Eigenschaft namens Berry-Krümmung, in der Elektronen im Material seitlich abgelenkt werden, wenn man versucht, sie zu verschieben. Wenn man einen links- oder rechtshändigen Laser verwendet, um Elektronen aus der Probe herauszuschleudern, folgen sie leichter, wenn dieser Sondenlaserblitz die gleiche Händigkeit hat. Andersherum sträuben sich die Elektronen jedoch dagegen, der entgegengesetzten Händigkeit zu folgen. Dies bewirkt einen Unterschied im gemessenen Signal, der uns aufzeigt, welche Händigkeit die Elektronen im Material haben".
In einer Anfang dieses Jahres veröffentlichten Arbeit hatten die Forscher gezeigt, wie dieser als "Zirkulardichroismus" bekannte Effekt genutzt werden kann, um die Gleichgewichtstopologie zu erkennen. Nun haben sie gezeigt, dass dies sogar mit sehr kurzen Lichtblitzen erreicht werden kann. "Ein wichtiger Unterschied zwischen einem langlebigen und einem kurzlebigen Zustand besteht darin, dass es viel schwieriger ist, die genaue Energie der herausgeschleuderten Elektronen im kurzlebigen Zustand zu messen", sagt Schüler. "Was wir in unseren Computersimulationen gezeigt haben, ist, dass auch ohne die genaue Kenntnis der Energie die Signaldifferenz zwischen links- und rechtshändigem Licht ausreicht, um uns zu zeigen, in welchem Zustand sich die Elektronen befinden.”
Michael Sentef, Emmy Noether-Forschungsgruppenleiter am MPSD, erklärt: "Die Experimentalphysiker beschäftigen sich schon seit einiger Zeit intensiv mit der Suche nach den Floquet-topologischen Zuständen. In atomaren und molekularen Systemen sind sie gang und gäbe, aber nicht in Festkörpern. Unsere Studie sollte das Aufspüren dieser Zustände in Experimenten erleichtern". Philipp Werner, Professor in Fribourg und leitender Wissenschaftler der Studie, fügt hinzu: "Wir haben viel Arbeit in unsere Computersimulationen gesteckt und sie so weit vorangetrieben, dass wir komplizierte Effekte einbeziehen können – wie zum Beispiel diejenigen, die aus der gegenseitigen Coulomb-Abstoßung zwischen den Ladungen entstehen. Dies bietet enorme Herausforderungen, aber auch fantastische Möglichkeiten.”
Die Wissenschaftler planen nun, mit ihren Simulationen Materiezustände vorherzusagen, die noch nicht einmal theoretisch erdacht sind. Werner erklärt: "Das so genannte Nichtgleichgewichts-Quanten-Vielteilchenproblem ist eines der schwierigsten Probleme für Physiker, aber auch eines, das reich an faszinierenden Effekten ist. Unser Traum ist es, neue Effekte zu antizipieren und Experimentalphysiker zu inspirieren, nach ihnen zu suchen".