Rechts, links, Bananenflanke: Mit chiralem Licht die Elektronenkrümmung in atomaren Schichten messen
Wir leben in einer gekrümmten Geometrie: Die Erde ist nicht flach. Dies wird uns klar, wenn wir mit einem Flug über den Atlantik einen – laut der flachen Landkarte – scheinbaren Umweg über Island und Grönland beschreiben, um von Europa in die USA zu gelangen. Ähnliches geschieht mit Elektronen in einem Material. Ihre Bewegung wird von der Berry-Krümmung beeinflusst – einer Größe, die 1984 erstmalig in einem bedeutenden Artikel von ihrem Namensgeber, Sir Michael Berry, beschrieben wurde.
Die Berry-Krümmung hat wichtige Auswirkungen – zum Beispiel beim Quanten-Hall-Effekt (Nobelpreis 1985), der heutzutage der Standard für die präzisesten Messungen der grundlegenden natürlichen Konstanten ist (Elektronenladung, Planckkonstante). Auch die moderne Festkörperphysik wurde durch das Konzept der Berry-Krümmung revolutioniert. Es ist eng verwandt mit dem der Topologie, der Beschreibung jener Eigenschaften, die konstant bleiben, wenn ein Objekt verformt, aber nicht zerrissen wird. Heutzutage ist die Erforschung der Topologie in diversen Zweigen der Physik eines der heißen Themen unter WissenschaftlerInnen.
Anders als im Falle der sogenannten Quantensimulatoren, wo die Abbildung der Berry-Krümmung direkt möglich ist, wie in Hamburg gezeigt wurde, existiert jedoch noch keine solche Imagingmethode für Festkörper. Diese Lücke wird von den neuen Forschungsergebnissen gefüllt. Das Team schlägt darin die Messung derBerry-Krümmung in Festkörpern mithilfe der Photoemissionsspektroskopie vor.
Die Photoemissionsspektroskopie basiert auf dem photoelektrischen Effekt. Für seine Beschreibung dieses Effekts wurde Albert Einstein der Nobelpreis 1921 verliehen. Heutzutage nutzen WissenschaftlerInnen hochenergetisches Licht, das Elektronen aus einem Metall katapultieren kann, um die sogenannte Bandstruktur zu messen. Sie bestimmt, ob ein Material isolierend, halbleitend oder metallisch ist. Dadurch ist die Photoemissionsspektroskopie nun eine der wichtigsten Methoden, um die elektronischen Eigenschaften von Materialien zu bestimmen.
In der nun vorliegenden Arbeit fügt Michael Schüler – ein ehemaliger Postdoc an der Universität Fribourg in der Schweiz, nun am SLAC und Stanford University in den USA – zusammen mit Umberto De Giovannini vom Max-Planck-Institut für Struktur und Dynamik der Materie (MPSD) in Hamburg und weiteren Kollegen, der konventionellen Photoemissionsspektroskopie einen neuen Dreh hinzu.
Laserlicht hat eine zusätzliche Eigenschaft, nämlich die Polarisation. Zirkular polarisiertes Licht ist händisch, also links- oder rechtsdrehend. Diese sogenannte ‚Chiralität‘ bedeutet, dass das elektromagnetische Feld der Lichtwelle im oder gegen den Uhrzeigersinn rotiert, während das Licht sich durch den Raum bewegt. In ihren numerischen Simulationen zeigte das Team, dass das photoelektrische Signal für rechtdrehendes Licht anders aussieht, als das für die linksdrehende Variante. Zudem bewiesen die Forscher, dass dieser Unterschied direkt mit der Berry-Krümmung der elektronischen Wellenfunktionen innerhalb des Materials zusammenhängt.
„Wir haben gezeigt, dass man mehr Informationen über die Elektronen als nur ihre Energie und ihren Impuls entschlüsseln kann, da diese ja ohnehin meist schon beschrieben sind", erklärt Schüler. „Wir haben die zu erwartenden Signale für einige typische und wichtige atomar dünne Materialien berechnet, die nun im Fokus der Quantenmaterialforschung stehen und als mögliche Kandidaten für zukünftige Quantentechnologien gesehen werden", fügt De Giovannini hinzu. „Wir waren überrascht, wie gut diese Methode funktioniert und wir sind uns sicher, dass experimentelle Fortschritte in diesen Imagingmethoden bald unser Verständnis der topologischen Eigenschaften vertiefen werden.“
Das Team erwartet, dass diese Methode auf das ultraschnelle dynamische Regime ausgeweitet werden kann. „Wir stehen am Beginn einer Nichtgleichgewichtsrevolution", sagt Philipp Werner, Physikprofessor in Fribourg. „Es gibt mehrere Theorieentwürfe und einige sehr vielversprechende erste experimentelle Nachweise von topologischen Eigenschaften in Materialien, die durch die Anwendung von ultrakurzen Laserpulsen auf der Femtosekundenskala verändert werden.“
MPSD-Theoriedirektor Ángel Rubio erläutert: „Unsere Methode zur Abbildung topologischer Eigenschaften kann direkt auf ultraschnelle Prozesse erweitert werden und sollte uns wichtige Einblicke geben, wie sich mit Licht die topologischen Eigenschaften in Quantenmaterialien steuern lassen.“