Wissenschaftler beleuchten den „anderen Hochtemperatur-Supraleiter“
Eine von Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Struktur und Dynamik der Materie (MPSD) geleitete Studie zeigt, dass Supraleitung und Ladungsdichtewellen in Verbindungen der wenig untersuchten Familie der Bismutate koexistieren können. Diese Beobachtung eröffnet neue Perspektiven für ein vertieftes Verständnis des Phänomens der Hochtemperatur-Supraleitung, ein Thema, welches die Forschung der Festkörperphysik seit mehr als 30 Jahren dominiert. Die Studie von Nicoletti et al wurde im PNAS veröffentlicht.
Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ist Supraleitung zunächst in einigen Metallen bei Temperaturen, die nur wenig über dem absoluten Nullpunkt (-273° C) liegen, beobachtet worden. Erst in den 1980ern gelang es Physikern, neue keramik-basierte Verbindungen zu synthetisieren, die fähig waren, Strom ohne jeglichen Verlust bei Temperaturen bis zu 138 K (-135° C) zu leiten. Diese wurden Hochtemperatur-Supraleiter genannt.
Die bekanntesten und meisterforschten Hochtemperatur-Supraleiter sind Kuprate (Kupferoxid-Verbindungen), welche die höchsten Sprungtemperaturen besitzen (d.h. die Temperatur, unter welcher Supraleitung möglich ist) und daher hohes Potential für zukünftige Anwendungen bieten. Dennoch existiert eine große Vielfalt anderer Verbindungen, die ebenfalls Supraleitung bei relativ hohen Temperaturen aufzeigen, unter ihnen die kürzlich entdeckten Eisenpniktide.
Noch fehlt eine allgemeine Theorie, welches es ermöglicht, die Physik hinter dem Phänomen der Hochtemperatur-Supraleitung zu beschreiben. Trotzdem ist fast allen Hochtemperatur-Supraleitern gemeinsam, dass sie die widerstandslose Supraleitung in der Nähe von anderen exotischen Materiezuständen, wie den Ladungsdichtewellen, entwickeln.
All diese Materialien können von einer Phase in die andere gelenkt werden und möglicherweise kann Supraleitung durch chemische Dotierung, externen Druck oder Magnetfelder erreicht werden. Noch existiert jedoch kein genaues Verständnis der subtilen Wechselbeziehung dieser Phasen und in einigen Fällen gibt es Beweise, dass die Ladungsdichtewellen und Supraleitung sogar mikroskopisch koexistieren können.
Vor diesem Hintergrund haben Experimente, in denen die Materialien mit ultrakurzen, intensiven Laserpulsen stimuliert wurden (bis zu ein paar hundert Femtosekunden), neue Erkenntnisse der Physik dieser Systeme erbracht. Die Gruppe von(?) Andrea Cavalleri am MPSD in Hamburg hat beispielsweise schon gezeigt, dass mithilfe solcher Pulse die Ladungsdichtewellen in einigen Kupratverbindungen zerstört und dadurch Supraleitung bei höheren Temperaturen – möglicherweise bis zu Raumtemperatur - erreicht werden kann. (Siehe Artikel von W. Hu, Nature Materials, 13, 705–711 and R. Mankowsky, Nature 516, 71–73, unten angegeben.)
In der jetzigen Studie untersuchten Nicoletti, Cavalleri et al verschiedene Verbindungen aus der wenig erforschten Familie der Bismutate. Diese Supraleiter wurden in den 1970ern entdeckt, noch vor den Kupraten, aber aufgrund ihrer weit niedrigeren Sprungtemperaturen (circa 30 K) wurde ihnen weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Sie besitzen viele Gemeinsamkeiten mit, aber auch viele Unterschiede zu den bekannteren Systemen. Insbesondere die Basisverbindung BaBiO(3) besitzt eine robuste Ladungsdichtewelle, aus der Supraleitung durch chemische Dotierung, d.h. durch die Ersetzung von Wismut durch andere Atome, entsteht.
Die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Probenkristalle der Zusammensetzung BaPb(1-x)BixO(3), d.h. mit unterschiedlicher zugesetzter Blei- (Pb) Konzentration “x”, wurden von Ian R. Fisher und P. Giraldo-Gallo an der Stanford Universität in Kalifornien, USA, hergestellt.
Die Forscher in Hamburg führten Experimente an diesen Kristallen durch, in denen sie diese Kristalle mit sehr kurzen und intensiven Laserpulsen anregten. Sie maßen, wie sich ihre Leitungsfähigkeit übergangsweise veränderte und innerhalb weniger Pikosekunden zu den Ausgangswerten zurückkehrte. Durch die Analyse der Abhängigkeit dieses Signals nach Frequenz, Temperatur und Bleikonzentration konnten sie es eindeutig mit einer durch das Laserfeld verursachte Veränderung der Ladungsdichtewellen verbinden.
„Bemerkenswerterweise,“ sagt Nicoletti, „konnten wir diese Reaktion nicht nur in der Basisverbindung BaBiO(3) messen, wo die Existenz einer Ladungsdichtewelle bekannt ist, sondern auch in der bleidotierten, supraleitenden Verbindung. Dieses Ergebnis ist ein indirekter Beweis der Koexistenz von Ladungsdichtewellen und Supraleitung in demselben Material, ein Zustand der in dieser Materialfamilie bisher diskutiert aber nie nachgewiesen worden ist.“
Die Wissenschaftler konnten außerdem die Energieskalen, die mit der Veränderung der Ladungsdichtewellen verbunden waren, genau bestimmen und so neue Informationen über das dynamische Wechselspiel mit der Supraleitung in den Bismutaten liefern.
Diese Ergebnisse sind besonders wichtig, da kürzlich Ladungsdichtewellen in mehreren Kupratsupraleitern gefunden wurden, was auf eine überraschende Gemeinsamkeit zwischen einigen Aspekten dieser Materialien hinweist. Das jetzige Experiment ist ein weiteres Beispiel, wie Licht zur Untersuchung, Kontrolle und Manipulation von Materialien genutzt werden kann. Ein letztendliches Ziel dieses Forschungsbereichs ist es, eine Art von Rezept für die Entwicklung neuer Materialien zu entwerfen, um neue Funktionalitäten bei zunehmend höheren Temperaturen zu entwickeln.
Die Studie wurde vom ERC Synergy Grant „Frontiers in Quantum Materials’ Control“ (Q-MAC), dem Hamburg Centre for Ultrafast Imaging (CUI) und dem Prioritätsprogramm SFB925 der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützt. Die Experimente wurden in den Laboren des Center for Free-Electron Laser Science (CFEL) ausgeführt – einer Kooperation des Deutschen Elektronen-Synchrotrons DESY, der Max-Planck-Gesellschaft und der Universität Hamburg. Die Studie wurde in enger Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern der Stanford University, California, USA, zusammengestellt.